Interview in der HNA vom 18.7.2022

“EINE BIOGRAFIE IST EIN AKTIVER AKT”

Von Christina Hein

Die Sozialpädagogin und Therapeutin Herta Schindler ist Leiterin des Systemischen Instituts Mitte in Kassel. Sie hat das Buch „Sich selbst beheimaten“ (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, ISBN 978-3-525-46279-9) veröffentlicht, in dem sie die Grundlagen systemischer Biografiearbeit aufzeigt. Wir haben sie befragt.

Was passiert, wenn ein Mensch von sich erzählt?
Dann setzt er eigene Schwerpunkte in dem, was für ihn Bedeutung hat. Er kreiert eine Erzählperspektive und schafft Zusammenhänge zwischen Themen, Erfahrungen und Erlebnissen. Er schafft sich eine eigene Geschichte. Übers Erzählen verändern sich Erfahrungen, es entsteht Entwicklung.

Warum ist Reden wichtig, könnte man nicht auch schreiben?
Schreiben ist auch wichtig, darüber kann ebenfalls viel passieren. Man kann das nicht gegeneinander ausspielen. Beim Reden und im Gespräch bestätige ich aber Erfahrungen, anders als beim Tagebuch-Schreiben. Diese Bestätigung im sozialen Raum ist eine Erfahrung, die man teilen kann, man bekommt Resonanz, das hilft, sie ins eigene Leben zu integrieren als soziale Normalität. Man erfährt Zugehörigkeit. Wenn du Tagebuch schreibst, bleibt alles bei dir und du drehst dich unter Umständen im Kreis. Reden ist wichtig zum Entlasten.

Ab wann hat ein Mensch eine Biografie?
Das biografische Gedächtnis beginnt im Alter von 3 bis 5 Jahren. Es bildet sich in der Jugendphase aus. Dazu braucht es die soziale Gemeinschaft, die Familie in der Regel. Für Kinder mit familiären Brüchen ist Biografiearbeit wichtig, weil sie sich sonst wie ein Blatt im Wind fühlen können. Viele Menschen verspüren auch nach einer aktiven Berufstätigkeit das Bedürfnis, sich ihrer Biografie zuzuwenden. Das gilt auch für Zeiten, die Neuorientierung fordern, bei fragwürdigen Entscheidungen, bei schwierigen familiengeschichtlichen Hintergründen. Oder durch Lust am Erkunden und  Erzählen. Kinder, die ihre leiblichen Eltern nicht kennen, stellen sich innerlich häufig Fragen nach ihrer Herkunft.

Was macht man dann?
Man begibt sich mit den maßgeblichen Erwachsenen zusammen auf die Suche. Es geht nicht darum, etwas mit Macht aufzudecken. Biografiearbeit überwältigt und nötigt nicht, sondern unterstützt beim Erkunden.

Was ist das überhaupt eine Biografie?
Eine Biografie zu haben ist ein aktiver Akt. Sie ist die Verschränkung zwischen Ereignissen, Erlebnissen, Daten und Fakten. Der klassische Lebenslauf ist keine Biografie. Eine Biografie ist das, was ich innerlich und äußerlich erlebt habe, zusammen mit den faktischen Daten familien- und gesellschaftspolitischer Art.

„Eine Biografie zu schaffen heißt, sich durch Erzählen Sinn geben“, schreiben Sie. Was heißt das in der Umkehrung?
Ich habe mit Menschen gearbeitet, die mir gesagt haben: Über mein Leben gibt es nichts zu erzählen. Das waren häufig die klassischen „Hausfrauen“, die gesellschaftlich keine eigene Stimme hatten. Ihre Erfahrungen waren nicht mit Bedeutung versehen. Als sie aber angefangen haben zu erzählen, haben sie gemerkt, was sie alles zu sagen haben, was ihre Biografie alles beinhaltet. Erfahrungen, die gesellschaftlich nicht vorkommen sollen, werden häufig mit einem Tabu belegt. Diesem Sinnentzug muss etwas entgegengesetzt werden.

Wie wichtig ist es, beim Selbstvergewissern ein Gegenüber zu haben?
Zum Merkmal der Biografiearbeit gehört, dass es eine innere Arbeit ist. Indem mich jemand begleitet, bekomme ich Unterstützung. Im Unterschied zum allein Schreiben hat man einen sozialen Raum, hat Zugang zum sozialen und kulturellen Gedächtnis. Es ist aufregend, weil ich eine direkte Begegnung habe.

Was kann systemische Biografiearbeit bewirken?
Es geht darum, die eigene Perspektive zu entwickeln, die eigene Stimme und Sichtweise, das, was bislang vielleicht keinen Ausdruck gefunden hat. Menschen können mit etwas belastet sein, weil es nicht auserzählt werden konnte. Die Wechselwirkung zwischen dem, was ein Leben geprägt hat und dem, was jemand selbst gestaltet hat, wird klarer. Was hat mich geprägt, was sind meine Motive, was habe ich erlebt, wo will ich hin, das sind Leitfragen.
Die eigene Erinnerung sollte als wesentlich und wichtig anerkannt werden in der Bestätigung durch die Gegenwart von Zeugen.

Für wen haben Sie das Buch geschrieben?
Das Buch ist für alle geeignet, die sich für Lebensgeschichten interessieren. Das gilt für Fachleute wie für Menschen, die sich mit ihrer eigenen Lebens- oder Familiengeschichte näher beschäftigen wollen. Im Buch stehen Beispielgeschichten und Anregungen. Es gibt Einblick in vielfältige Anwendungsgebiete. Es regt also das Erzählen an. Erzählen kann man übrigens auch über malen oder tanzen und andere Ausdrucksformen.
Mir ist wichtig, dass es Spaß macht, sich mit Biografien zu beschäftigen. Gefreut hat es mich, dass Aleida Assmann, mit ihrem Mann Jan Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, das Geleitwort geschrieben hat.

ZUR PERSON

Herta Schindler (65), Sozialpädagogin, Supervisorin und Systemische Therapeutin, leitet mit einer Kollegin das Systemische Institut Mitte in Kassel. Sie bietet unter anderem Weiterbildung in systemischer Biografiearbeit an (hertaschindler.de). Sie ist Autorin des Grundlagenwerks „Sich selbst beheimaten“ (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen), das von systemischer Biografiearbeit und ihrer Anwendung handelt. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt mit ihrem Mann in Kassel.

HINTERGRUND

Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren mit Schwerpunkt auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen, insbesondere auf Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie und deren sozialer Umwelt.

Das Interview ist am 18. Juli 2022 in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen HNA erschienen.

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